Ravenclaw Rabenpost Ausgabe
34

Märchenstunde


Vom Fliegen

Es war eisig kalt und sie konnten ihren Atem wie Rauch vor sich in der Luft schweben sehen. Das Wasser des kleinen Bachs war mit Schnee vermischt, weshalb dieser nur zäh dahinfloss. Es tat gut, sich von allem anderen zu entfernen: Hektik, Streben, dem ganzen Gerede, das eigentlich nur die Stille überbrücken sollte. Stille, die nun den Raum für viel interessantere Gedanken öffnete.
Hier draußen war es immer ruhig. Ein Rabe landete neben ihnen, krächzte und beobachtete sie. Dann flog er wieder plötzlich auf, als sei es das Gewöhnlichste von der Welt. Es lag in seiner Natur, für ihn war es so einfach und vor allem so schlicht, unglaublich einfach. Er brauchte nur die Schwingen auszubreiten, ganz nach seinem Willen hoch - und immer weiter davonfliegen. Fasziniert betrachtete das Mädchen den Vogel. Raben mochten allgemein nicht als die graziösesten Vögel gelten, aber die Leistung, die das Tier da vor ihren Augen vollbrachte, barg seine eigene Schönheit. Wen interessierte da denn sein Aussehen? Fliegen musste wunderbar sein, aber sie wusste, es gab genauso wenig von allein fliegende Menschen wie fliegende Teller. Und wie ihre Mutter das beim Abwasch mit dem lässigen Schnick aus dem Handgelenk mit dem Zauberstab tat, wusste sie beim besten Willen nicht.

„Warum können wir nicht fliegen?“, fragte sie ihren Vater.
Er schien erstaunt über ihre Frage inmitten dieses Schweigens, als hätte sie ihn aus tiefen Überlegungen geholt.
"Du bist noch zu jung, um einen eigenen Besen zu haben", antwortete er geistesabwesend, als habe er in ihrer Frage einen Vorwurf gehört.
"Ich meine einfach so, ohne Besen und Teppiche. Du hast selbst gesagt, dass die launisch sind. Aber der Rabe da kann doch auch abheben und ich glaub nicht, dass seine Flügel launisch sind, und..."
„Aber wir haben keine Flügel“, unterbrach er sie.
Das war eine eher ausweichende Antwort, fand sie. Immerhin war das eine Tatsache, die sie auch in ihrem jungen Alter durchaus selbst einsehen konnte.
„Wir könnten uns welche machen“, schlug sie vor. "Ich bastel sie und die zauberst sie an meinem Rücken fest." Und sie flatterte mit ihren Armen, als wäre es nötig, die Beschreibung zu verdeutlichen.

Dass es so einfach nicht war, wusste sie eigentlich auch. Wie oft hatte sie davon geträumt und selbst Versuche unternommen – mit armlangen, selbstgebastelten Schwingen, die sie sich umband, von der Gartenmauer hüpfend – in dem kindlichen Glauben, dass es doch so schwer nicht sein könne. Und nun versuchte er ihre Frage so banal zu erklären, als ob er glaube, sie hätte nicht oft genug davon geträumt. Sie sah ihn mit Kulleraugenaugen an, wodurch sie jünger wirkte, als sie war, aber die Masche zog häufig. Dafür, dass er doch sonst immer alles so präzise beantworten konnte, war diese Antwort einfach zu dürftig. Verdammt: Papa weiß alles!
Natürlich wusste er es, aber seine Begeisterung dafür, nun Naturgesetze breit zu treten, hielt sich in Grenzen? Doch nichts ist so drängend wie ein fragender Kinderblick. Wie hätte er diese Kulleraugen ertragen können? Außerdem galt es immerhin auch seinen Ruf als Papa-der-alles-kann zu wahren. Ein ungewöhnlicher Gedanke erfüllte ihn. Etwas, das ihm lange so nicht durch den Kopf gegangen war. Es gab eine Möglichkeit, einen Umweg. Aber womöglich war es auch der Weg.

„Vielleicht liegt's daran, dass sie sich nicht so binden, wie wir Menschen es tun.“ Ihr skeptischer Blick schien ihn jetzt schon als Lügner entlarven zu wollen, doch er fuhr fort.
„Stell dir vor, du wärest ein Vogel. Sie wissen nichts von Gesetzen, von dem, was üblich für uns ist, Sitten, von staubigen Räumen. Sie wissen nicht einmal um das Gewicht ihres Körpers, geschweige denn davon, dass die Erde ihn anzieht. Aber sie kennen ihre Freiheit und sie wollen immer leben. Sie denken gar nicht darüber nach, dass alle Dinge gewöhnlich zum Erdboden fallen."
Er holte tief Luft. "Wer die Grenzen unserer Wahrnehmung überschreitet und stattdessen das Unglaubliche, Phantasie, sprechen lässt, dem wachsen Flügel.“

Mit geweiteten Augen verfolgte sie den Vogelschwarm, der gerade in diesem Moment einem mächtigen, magischen Zeichen gleich über sie hinwegflog. Das Schlagen der Flügel war der einzige Laut weit und breit. Beinah glaubten sie beide den Luftzug, den die Schwingen der Tiere verursachten, zu spüren.
„Also könnten wir fliegen, wenn wir unlogisch genug wären?“, folgerte sie, ohne ihre Augen vom Himmel abzuwenden.
Er verfolgte ihren Blick und grinste. Sicher, die Frage war berechtigt.
„Ich denke, dazu sind wir schon zu lange Menschen. Wichtig aber ist, dass es tatsächlich gehen kann. Es gibt so viele Möglichkeiten "abzuheben" - auch ohne Flügel.“

Und während sie weitergingen und den Raben beobachteten, der vor ihnen auf der Wiese herumhüpfte und bei ihrem Näherkommen schnell wieder in den Himmel aufstieg, fiel ihr noch etwas ein.
"Du, Papa, als wir bei Tante Betty waren, da hat diese Kiste mit den bewegten Bildern, die die Muggel alle haben, für so einen komischen Muggelzaubertrank geworben, der soll einem Flügel machen. Warum kennen wir den denn nicht?"
"Glaub doch bloß nicht alles, was so eine quasselnde Muggelkiste dir sagt, besonders wenn du nicht weißt, wo die ihr Hirn her hat."

„Der Grund, warum Vögel fliegen können und wir nicht, ist der, dass sie voller Zuversicht sind und wer zuversichtlich ist, dem wachsen Flügel.“ (J.M. Barrie)

Eo-Lahallia