Illegales Lesfederle
Wir sprachen mit Inga Applestone, Professorin am ‚Robert-Wilson-Institut für magische Geschöpfe’ in Oxford
Raben-Post: Prof. Applestone, wie geht es denn mittlerweile Ihrem kleinen Patienten?
Prof. Applestone: oh, das Lesfederle hat sich in den wenigen Tagen hervorragend erholt. Wissen Sie, wir haben ständig
einen hübschen Institutsbestand an angefangenen Skripten mit fragwürdigen Thesen und sich widersprechenden Theorien,
da hat unser Lesfederle genug schwere und anspruchsvolle Kost zu kauen.
*lacht*
Raben-Post: Man sagt, das Lesfederle befand in sehr schlechtem Zustand.
Prof. Applestone: Nun ja, ganz so schlimm war es nicht, aber das kleine Wesen war schon ziemlich abgemagert. Wir vermuten, daß der
Tagesprophet-Reporter in letzter Zeit dem Lesfederle entweder zu wenig gute Artikelentwürfe vorgelegt hat oder ihm zu viele
dürftig vorgeschriebene Manuskripte vorsetzte. Womöglich konnte das kleine Ding den Entwürfen Strickmans nicht genügend
geistige Nahrung entziehen und schrieb die fertigen Texte daher wohl überwiegend mit den eigenen Reserven, was die
körperliche Auszehrung erklären würde. Außerdem hatte das Federle durch die ständige Lektüre von Tagesprophet-Skripten
mittlerweile einen Reizmagen entwickelt, was sich sowohl an dem ungewöhnlich krakeligen Schriftbild als auch an der nicht
immer konventionellen Wortwahl der Lesfeder-Texte zeigte.
Raben-Post: Sind bleibende Schäden sind für das Wesen zu befürchten?
Prof. Applestone: Nein, Wesen wie diese Lesfeder verfügen über genügend angeborene Schutzmagie, um auch längere geistige
Notzeiten zu überstehen.
Raben-Post: Was geschieht jetzt mit dem Lesfederle? Bleibt es hier bei Ihnen im Institut?
Prof. Applestone: Das würde uns sehr freuen, aber die Entscheidung darüber wird das Ministerium treffen. Zaubereisekretär Ernest
Hastington von der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe steht mit uns im Kontakt und wird uns über das
weitere Vorgehen auf dem Laufenden halten.
Raben-Post: Also ist für das Lesfederle ein Einsatz im Ministerium geplant?
Prof. Applestone: Nein, nein, ein Aufenthalt im Ministerium kommt hoffentlich nicht in Frage, Ministeriumstexte bieten einer Lesfeder
sicherlich zuwenig geistige Substanz.
*lacht*
Raben-Post: Lesfedern sind äußerst seltene und wertvolle Geschöpfe. Wie, glauben Sie, ist sie in den Besitz eines Zeitungsreporters
gelangt?
Prof. Applestone: Tja, das ist mir auch ein Rätsel. Die meisten meiner Institutskollegen waren ebenso überrascht
wie ich, als die Ministeriumsleute uns ein lebendes Lesfederle auf den Schreibtisch stellten. Viele von uns hatten von
diesen Geschöpfen allenfalls in ihrer Ausbildung gehört. Ich persönlich vermute, daß Strickman das Federle geschenkt bekommen hat,
vielleicht von einem Gönner oder einer Verehrerin. Schließlich verkehrt ein berühmter Reporter wie Strickman in Kreisen, in
denen man sich seltene magische Geschöpfe halten kann oder weiß, wie man sie sich beschafft.
Raben-Post: Warum ist das Lesfederle nicht davongelaufen?
Prof. Applestone: Das widerspräche ihrem Wesen. Ähnlich wie die Hauselfen sind sie sehr gutmütig und Menschen gegenüber
ausgesprochen anhänglich.
Raben-Post: was Menschen leider immer auszunutzen wußten. ….
Prof. Applestone: Das ist leider richtig. Wegen der zunehmenden Ausbeutung durch Menschen wurden die Lesfedern in den Jahren
1896 und 1922 durch Gesetze unter ministeriellen Schutz gestellt und sind seit 1951 sogar meldepflichtig. Genutzt hat es
den treuen kleinen Wesen scheinbar nicht viel, denn mittlerweile gibt es ja kaum noch welche, während sie im Mittelalter
und in der Rennaissance praktisch in jeder Bibliothek und bei jedem forschendem Zauberer anzutreffen waren.
Raben-Post: Was könnte der Grund für das Verschwinden der Lesfedern sein?
Prof. Applestone: Das weiß man nicht. Es gibt böse Zungen, die behaupten, unsere Fähigkeit im kreativen Schreiben und darin,
geordnete Gedanken zu Papier zu bringen, habe im Laufe der Jahrhunderte abgenommen, weswegen die Lesfederle durch immer
schlechter werdendes literarisches Nahrungsangebot an Widerstandskraft verloren hätten und schließlich in der Moderne mit dem Aufkommen
von Groschenromanschreibern, Schulbuchautoren und Comiczeichnern allmählich an intellektuellen Seuchen zugrunde gegangen
wären.
Raben-Post: Und? Was halten Sie von dieser Theorie?
Prof. Applestone: Nun ja, ich halte das für übertrieben. Es gibt ja auch heutzutage noch gute und anspruchsvolle Lektüre, nicht
umsonst bin ich Abonnentin der ‚Rabenpost’.
*lacht*
Raben-Post: Vielen Dank für das Kompliment, Frau Professor
Prof. Applestone: Ich glaube auch nicht, daß die Lesfedern ausgestorben sind. Vielleicht ist es eher so, daß sie heutzutage
mehr im Verborgenen leben als früher oder sie sich lieber in einer Ecke der magischen Welt aufhalten, die wir
noch gar nicht kennen. Wer weiß, wenn wir Menschen wieder mehr zur Ruhe kommen, uns um einen guten Schreibstil bemühen
und gründlicher nachdenken, bevor wir schreiben, sind wir vielleicht auch wieder ebenbürtige Partner für die Lesfedern
und sie werden wiederkommen und uns ihre wertvollen Dienste anbieten.
Raben-Post: Frau Professor Applestone, vielen Dank für das interessante Interview
Prof. Applestone: Gern geschehen.
Detritus