Rabengesang?


Können Raben wirklich singen? „In einem wichtigen Moment ihres Lebens wird ihre Stimme versagen.“ – da hatte sich unsere "Horror"-skop-Fee ja etwas sehr Ermutigendes einfallen lassen. Denn wenn man vorhat, in einem Musical auf der Bühne zu stehen, erweist sich das doch als ziemlich ungünstig, besonders bei der Premiere, wo es vor allem darauf ankommt zu beeindrucken.
Das betreffende Musical war „Jesus Christ Superstar“, das die letzten Tage im Leben Jesu aus der Sicht des Jüngers Judas beschreibt, ohne die Titelfigur zu verherrlichen. Es ist eins der ersten Werke des berühmtem Musicalkomponisten Andrew Lloyd Webber und in einem sehr rockigen Stil gehalten. Zwar gibt es eine deutsche Übersetzung, da diese jedoch nicht durch hohe Qualität glänzt, haben wir uns für eine englische Fassung entschieden.
Die gesamte Cast (das heißt alle Darsteller, sowohl Ensemble als auch Solisten) besteht aus einem Mix von Berufsmusikern und Amateuren: Schülern, Studenten und Berufstätigen. Schon letzten November hatte ich mich für die Produktion beworben. Man sucht sich ein Stück aus, das dem Stil des Musicals entspricht (Rock, Popo, Soul, Jazz), singt es vor und bekommt dann eine Rolle angeboten. Ich hatte damals "Easy As Life" aus dem Musical Aida vorgesungen und alles verlief, dafür, dass es meine erste Bewerbung dieser Art war, recht zufriedenstellend. Ich bekam eine Stelle im Ensemble mit wenigen solistischen Einsätzen. Seit Januar liefen die Proben. Dabei beginnt man zunächst damit, alles nur musikalisch einzustudieren, bevor es an die szenische Umsetzung geht und man Choreographien (Tänze) erlernt. Dafür stellte uns eine Schule vor Ort ihre Räume und Turnhalle zu Verfügung. Zuletzt gilt es, Sitzproben zu machen, das heißt Darsteller und die Band proben rein musikalisch zusammen. Die Woche vor der Premiere wird sehr geschäftig. Proben häufen sich und es gilt, die letzten noch fehlenden Requisiten und Kostüme zu beschaffen. Wer hat einen Kelch für das Abendmahl? Wer einen Beutel für das Geld, das die Priester Judas geben?

Am 8. Juni ist die Premiere, am 6. finden sich alle in der Halle ein. Die Technik ist sehr aufwendig, schon allein die Menge an Scheinwerfern erscheint übertrieben. Jeder Sänger bekommt ein eigenes winziges Mikrofon, daran befindet sich ein langes Kabel und an dessen Ende ein kleines Kästchen, das ist der Sender. Das Mikrofon wird mit Klebeband an der Wange oder auf der Stirn befestigt, den Sender muss man irgendwo am Körper verstecken, wo er weder stört noch auffällt. Dann geht es zum Soundcheck. Die Lautstärke jedes einzelnen Mikrofons muss genau auf den Sänger bzw. das Instrument abgestimmt werden.
Für die ersten Durchläufe auf der fremden Bühne werden Markierungen gemacht, an denen Darsteller und Lichttechniker sich orientieren. Zuletzt steht die Generalprobe an. Die Stimmung ist etwas gedämpft, denn alle stehen unter Druck. Die Organisation leidet darunter, dass alle aufgeregt oder müde von der Arbeit sind. Aber man sagt ja, je chaotischer die Generalprobe wird, desto besser wird die Aufführung.

Mindestens 3 Stunden vor Beginn der Vorstellung sind alle anwesend. Soundcheck, Tänze durchgehen, umziehen und schminken. Jesus Christ Superstar erfordert zwar keine sehr aufwendige Maske, doch im Theater wird immer dick Schminke aufgetragen, vor allem um die Augen. Denn auf eine größere Entfernung sind sonst die Augen kaum mehr sichtbar. Von Nahem sieht das natürlich lächerlich aus. Zudem muss das Gesicht möglichst dunkel grundiert werden, da man durch das Licht der Scheinwerfer meistens viel blasser als gewöhnlich wirkt. In der Regel schminken die Darsteller sich selbst, aber gerade die männlichen Wesen lassen sich gerne von den geübten Damen helfen. Nicht minder aufwendig sind natürlich die Frisuren. Das Äußere muss eben viel über den Charakter aussagen. Die „Soulgirls“, drei Mädchen, die einige Lieder dreistimmig begleiten (ihnen wird vom Komponist sonst kein fester Charakter zugeschrieben, sie sind aber allgemein mit "Showgirls" vergleichbar), wirken eher schrill mit ihrer sehr voluminösen Haarpracht, die Priester finster, König Herodes überheblich. Die Kostümierung ist teilweise zeitgemäß, so z.B. bei Jesus, den Priestern und Pilatus, bei allen anderen dagegen modern.
Dann geht’s los. Ob aufgeregt oder ausgeglichen, ein wenig angespannt sind alle sicher. Ich bin erstaunlich ruhig, während wir hinterm Vorhang stehen und auf unseren Einsatz warten. Erst als mir klar wird, dass der Auftritt nur noch Sekunden entfernt ist, steigt der Puls etwas und ehe man drüber nachdenken kann, steht man auf der Bühne. Ab da läuft alles einfach durch. Nicht immer wie geplant, aber wer erwartet das schon?

Der erste Akt ist vor allem für das Ensemble anstrengend, da es viel zu tanzen gibt. Beginnend bei der Darstellung von Jesus Beliebtheit, während Judas daran zu zweifeln beginnt, ob der Gefeierte wirklich der Messias ist; die erste Auseinandersetzung zwischen Jesus und Judas, da letzterer kritisiert, dass Jesus Maria Magdalena, immerhin eine ehemalige Prostituierte, rehabilitiert; der gefeierte Einzug nach Jerusalem; die Entscheidung der Priester, dass Jesus von der Bildfläche verschwinden muss; der Versuch des Jüngers Simon, Jesus zum Aufstand gegen die Römer zu überreden; schließlich Judas Verrat, da er enttäuscht feststellt, dass zwischen dem angeblichen Messias und Maria Magdalena Liebe entsteht. Dabei stellt das Ensemble die meiste Zeit Jesu Anhänger dar. Wir heben ihn hoch, feiern ihn und tanzen. Die einzige Ausnahme ist die Szene im Tempel, wo alle in Schwarz gehüllt die unterste Schicht der Gesellschaft darstellen. Zu zweit stellen wir Alkoholiker da, die versuchen einen Händler auszurauben. Im zweiten Teil der Szene werden wir zu Aussätzigen, die Jesus um Hilfe bitten und ihn dabei als Masse beinah erdrücken.
Im zweiten Akt hat man als weiblicher Darsteller etwas Pause, denn beim Abendmahl gibt's keine Mädels. Im Garten Gethsemane befallen Jesus dann Selbstzweifel und er erklärt sich selbst bereit zu sterben. Er wird verhaftet und die Menge verhöhnt ihn mit lästigen Fragen. Au, da käme jetzt ein Solo von mir: "Tell me Christ how you feel tonight". Wie war das mit dem „Stimme versagen“? Ich singe, meine Stimme ist da - das Mikro setzt dafür zu spät ein. Ärgerlich, aber an den nächsten Abenden funktioniert es dafür. Wenn das schon das „Stimme versagen“ war, bin ich zufrieden.
Von der Verhaftung aus geht es zu Verhören durch den Hohepriester Kaiaphas, zu Pilatus und König Herodes, wobei letzterer Jesus nur verspottet und ihn auffordert, ihm doch mal ein Wunder zu zeigen. Schließlich die entscheidende Szene, in der die Menge Jesu Tod fordert. Das Ensemble zeigt eine drohende Haltung und fordert von Pilatus laut "Crucify him" - das Schreien ist, so banal es klingt, eine der größten Herausforderungen, denn es muss intensiv sein, ohne dass man sich dabei die Stimme kaputt macht. Während die Menge Jesus schreiend umkreist, wird der Arme mit Blut beschmiert, wovon die Menge ungeplant auch nicht zu wenig abbekommt.
Auf dem Weg zur Kreuzigung taucht Judas auf, der sich wegen Selbstvorwürfen umgebracht hat, und fragt nach dem Sinn für Jesu Handeln. Dieses Auftauchen erklärt der Komponist nicht, man könnte es als Vision des sterbenden Jesu interpretieren. Am Ende stellen er und das Ensemble die Frage „Are you what they say you are?“ – also: Bist du wirklich der, von dem man sagt, dass du es bist? Bei diesem Showlied heißt es nochmal alles geben und bloß auf den Dirigenten achten, damit man nicht die letzten Töne vermasselt - da sucht der Dirigent sich gerne sein eigenes Tempo aus.
Ein Kreuz gibt es auf der Bühne nicht, Jesus haucht sein Leben zwischen zwei Seilen hängend aus, lässt seine Fesseln fallen und geht während der abschließenden Musik nach hinten ab.
Luftanhalten. Stille. Dann der ersehnte Beifall. Zur Musik des Titelliedes treten alle auf und verneigen sich. Selbst das wurde geübt, nur stört es da keinen mehr, wenn es doch nicht klappt. Ingesamt drei Zugaben wurden gespielt, Dirigent und Regisseur werden auf die Bühne geholt.
Mit dem letzten Ton fällt jedoch noch nicht der Vorhang. Zuerst werden Glückwünsche und Kritik von den Verwandten und Bekannten im Publikum eingeholt. Gerade gemessen an den Sorgen, die unter den Mitwirkenden vor der Premiere kursierten, sind die Kommentare der Zuschauer Balsam. Da fällt es umso leichter, sorgenfrei zur Premierenfeier überzugehen.
Ich war gegen 2 Uhr nachts zuhause, wobei die Feier noch weiterging. Was Mitwirkende an einem Musical bei so einer Feier am meisten tun, kann man sich vielleicht denken: singen und Musikerwitze reißen. Da kann einem der muskalische Leiter noch zehn Mal sagen, dass man die Stimme doch schonen sollte - ein Lied ging immer noch. Aber irgendwann wird es Zeit aufzuhören. Immerhin warten an diesem Wochenende noch zwei weitere Vorführungen auf einen und zwei weitere Anfang Juli. Für dieses Mal konnte ich über die Horrorskop-Fee ja noch lachen, ich hoffe, sie sucht sich beim nächsten Mal was Netteres für mich aus. Wer weiß, wann ich mein nächstes Vorsingen für ein Musical habe...
Eine unglaubliche Erfahrung ist das alles auf jeden Fall für mich. Verglichen mit meiner bis dahin einzigen Musicalaufführung von der Schule, ist die Arbeitsatmosphäre eine völlig andere und das Engagement, mit dem an allem gearbeitet wird, fasziniert. Es ist schon eine Chance, diese Erfahrungen machen zu können. Und ganz egal, wie sehr man das Stück hinterher zerreißt: in so einer Gruppe macht Musiktheater Spaß und allein das auf der Bühne Stehen und Gehört zu Werden entschädigt einen für all den Stress, den man bei der Arbeit hatte.

Eo-Lahallia